Besitzt man nur einen Hammer, scheint die Welt voller Nägel zu sein. Heute heißt dieser Hammer generative KI und prägt unser Bild von Künstlicher Intelligenz. Unternehmen übertreffen sich gerade bei der Identifikation von Anwendungsfällen für generative KI, auch GenAI genannt. Der Chemie- und Pharmakonzern Bayer etwa hat über 700 Fälle identifiziert. Dazu zählen allerdings auch das Auswerten von Excel-Ergebnissen und das Erstellen eines Textentwurfs in Word.
Usecase Inflation
Der Wettlauf um die Nutzung generativer KI hat begonnen. Man könnte auch von einer Usecase-Inflation sprechen. Inflationär ist inzwischen auch die Verwendung des Begriffes KI im Zusammenhang mit den generativen Large Language Models. Bereits im Einsatz befindliche Technologien bekommen ein neues Label. Oder es werden eher schlichte Lösungen auf den Markt gebracht, wie der AI-DJ von Spotify, der Musik auswählt und zwischendurch KI-generierte Ansagen und Kommentare liefert.
Unternehmen erhoffen sich mit dem KI-Label mehr Aufmerksamkeit und wollen sich beim Zukunftsthema positionieren. Das funktioniert für die Hersteller der Werkzeuge ganz gut, wie sich am Kapitalmarkt zeigt. So hat der Economist ein Chatbot-Premium identifiziert. Seit dem Launch von ChatGPT haben die im S&P-versammelten Tech-Werte die übrigen S&P-Werte um fast 40 % an Wertentwicklung übertroffen.
Maslows Hammer
Wie immer bei einem Goldrausch profitieren als erste die Hersteller der Werkzeuge. So scheint es auch diesmal zu sein. Wer KI-Gold schürfen will, braucht GenAI-Anwendungen. Wir erleben einen Run auf die schönen neuen Werkzeuge. Die GenAI-Anwendungen kommen mit dem Versprechen, aus Daten ganz einfach Gold zu machen.
Doch der Goldrausch droht uns den Blick zu verstellen. Der Psychologe Adam Maslow hat das Phänomen 1966 so formuliert: „Ich glaube, es ist verlockend, wenn das einzige Werkzeug, das man hat, ein Hammer ist, alles zu behandeln, als ob es ein Nagel wäre.“
Heute werden GenAI-Anwendungen für vieles genutzt, was nach einem Nagel aussieht. Sie sind hilfreich in Bereichen wie Programmierung, Kundenservice oder Textanalyse. Doch bei Aufgaben, die ein eindeutiges Ergebnis erfordern, stoßen sie an ihre Grenzen.
Nicht jedes Problem braucht einen Hammer
Denn GenAI-Modelle generieren Antworten, die auf einer Vielzahl von Faktoren basieren: darunter der Einsatz des trainierten Datensatzes, der Eingabe des Benutzers und internen Wahrscheinlichkeitsmodellen. Daher liefern diese Modelle bei derselben Anfrage unterschiedliche Antworten. Diese Variabilität ist aber im Grunde ihre Stärke, da sie eine breitere Palette von kreativen oder kontextuellen Antworten ermöglicht. Aber es bedeutet auch, dass GenAI nicht für Anwendungen geeignet ist, die Konsistenz und Vorhersehbarkeit erfordern.
Präzision und Konsistenz ist nichts für GenAI
Denn nicht jedes Problem braucht einen Hammer. Wer eindeutige und wiederholbare Antworten sucht, für den sind andere KI-Verfahren oder algorithmische Ansätze besser geeignet. Zum Beispiel sind regelbasierte Systeme, Entscheidungsbaumalgorithmen und strukturierte Datenbankabfragen deterministisch: Sie liefern konstante Ergebnisse unter denselben Bedingungen und Eingaben. Diese Verfahren sind ideal für Anwendungen, bei denen Präzision und Konsistenz entscheidend sind, wie in der Buchhaltung, bei rechtlichen Analysen oder in sicherheitskritischen Systemen.
Bei aller Euphorie über das neue Werkzeug GenAI: Ab und zu lohnt ein Blick in den Werkzeugkasten und die Frage, ob ich für alles einen Hammer brauche. Oder noch besser: Erst mal den Werkzeugkasten zuklappen und länger über das Problem nachdenken, das eigentlich gelöst werden soll.